Mein Weg bis hier

 

Vom Säugling, der seiner Mutter „das Trommelfell buchstäblich "zerschrie“, wie sie sagt, bis zum dramatischen Sopran liegt ein langer Weg. Fakt ist aber, dass der stimmliche Ausdruck meines Seins schon immer stark war; stark im Wollen.

 

In der Hansestadt Stralsund in eine Architektenfamilie hineingeboren haben mich die Wichtigkeit und die Ausgewogenheit der Form und der pommersche Sinn fürs Praktische geprägt. Im Ohr hatte ich zuallererst die besonderen Sprech- und Singstimmen meiner Mutter und meines Vaters. Klassische Instrumental- und Chormusik war oft zu hören, soweit ich mich erinnere WENIG Oper und Sologesang und wenig bis kein Rock oder Pop. Es wurde gerne nebenbei gesungen – ohne Verpflichtung, nur aus Freude an der Stimme. Von meiner Mutter hat sich mir auch das Interesse am Theater übertragen und so habe ich relativ früh auch viel Sprechtheater besucht.

 

Zum Gesangsunterricht ab meinem 14. Lebensjahr bin ich fast genötigt worden - aber nur fast!

Bei einem Talente-Wettbewerb in der Schule fiel ich dem Leiter der Musikschule auf und stellte mich daraufhin und der Ansage meiner Mutter folgend den 2 (aus meiner Sicht sehr alten) Gesangslehrerinnen vor. Ich stand widerstrebend und eingeschüchtert da und sang nach, was man mir vorspielte. Mit der eher amüsierten Aussage „aus Dir machen wir einen Bass“ ging ich nach Hause und hoffte, dass meine Mutter nicht insistierte.

 

Das tat sie nicht. Aber bei nächster Gelegenheit, nämlich unserer Vorstellung beim „Musikunterrichtskabinett“ (einer alternativen Musikschule) um mir Klavierunterricht – auf meinen eigenen Wunsch hin – zu verschaffen, gab sie an, dass ich viel und gerne und seit ein paar Jahren im Chor im Sopran (!) singe; erst im Kinderchor, dann in der Singakademie des Theaters, und sie erwähnte auch mein Vorsingen an der Musikschule vor einiger Zeit. Da hieß es, ich würde auf der Klavier-Warteliste nach oben rutschen, wenn ich mit Gesangsunterricht anfangen würde. Es gäbe gerade eine neue, junge Gesangslehrerin.

 

Wer ostdeutsch sozialisiert wurde, wie ich, kann vielleicht verstehen, warum man mit Gesangsunterricht rauskam, wenn man eigentlich für Klavierunterricht hinging. Das erste Treffen mit der jungen Sängerin vom Theater war nicht so einschüchternd wie mein erstes Vorsingen und bald hatte ich richtig Spaß meine Solo-Stimme in lustigen Übungen zu erproben und merkte auch, dass sie sich irgendwie entwickelte. Das Singen im Chor verschaffte mir auch erste Kontakte mit der Oper und das beglückende Gefühl Teil eines großen harmonischen Ganzen zu sein.

 

Mein erster Berufswunsch, wenn man mich danach fragte, war natürlich Architektin. Irgendwann fand ich Schauspielerin zu sein wäre das Größte, aber dafür war ich entschieden zu schüchtern. Schon vor dem Weihnachtsmann habe ich lieber gesungen als ein Gedicht aufgesagt. Da ich bis zur 12. Klasse keine bessere Idee hatte und mittlerweile Spaß im Gesangsunterricht bei meiner 2. Lehrerin Frau Wildgrube (eine der 2 alten Lehrerinnen meines 1. Vorsingens) hatte, bereitete ich mich auf 2 Eignungsprüfungen vor (auch den Klavierunterricht bekam ich irgendwann endlich) Eine in Leipzig und eine in Berlin. An beiden Hochschulen bestand ich und entschied mich für Berlin. Das war 1993/94.

 

Nichts hätte mich auf diese Stadt zu dieser Zeit vorbereiten können. An jeder Ecke eine Baustelle. Ich fuhr meistens mit dem Rad von Kreuzberg nach Mitte und zurück und nutzte die Strecke für ein kleines Rad-Workout im Wettbewerb mit den Ampeln. Ich liebte es. Ich war neugierig, vertrauensvoll, naiv und plötzlich Mezzosopran. Gut - das politische System hatte sich quasi über Nacht geändert, da kann so ein Fachwechsel wohl genauso schnell passieren. Wer konnte das schon wissen. Ich nicht. Ich wusste nichts Genaueres von Fächern, ich versuchte nur alles so zu machen, wie es meine Professoren von mir erwarteten und es hieß, ich hätte großes Talent. Zum Ende meines 6-jährigen Studiums hatte ich mehrfach beobachtet, aber nicht verstanden, dass dieses Etikett wiederholt an neue Studenten geklebt wurde. Wenn der Professor dann an seine Grenzen kam, wurde es einfach entfernt und stattdessen wurde der Erwartungsdruck ins Persönliche hinein verlagert. Als sich mir die Möglichkeit bot, aus dieser Patt-Situation durch ein Auslandsjahr kurz vor Ende meines Studiums herauszukommen, griff ich zu. In Boulder, Colorado traf ich auf eine herzensgute und kompetente Professorin. Durch Sie kam die Länge meiner Stimme wieder zum Vorschein. Ich schloss mein Studium in Berlin mit einem Diplom ab und hatte genug von diesem sehr eigenen Kosmos Musikhochschule. Ich wollte Theatererfahrungen sammeln und mich beweisen.

 

Von der Welt der Stimme hatte ich im Studium einen ersten Geschmack bekommen. Vor meinem Studium wusste ich eigentlich nur, dass ich gerne singe. Dass Oper die geniale Verbindung von Schauspiel, Stimme, Sprache und Musik ist, dämmerte mir bald, dass ich aber mit dem Singen mich und auch die Welt verstehen wollte, wurde mir eher langsam bewusst.

 

Nach ca. 10 Jahren eher mäßigen Erfolgs als Mezzosopran in Köln, Aachen, Hildesheim und Heidelberg - und existenzsichernden Ausflügen in den tiefen Alt des Heidelberger Opernchores, waren die Zeichen nicht mehr zu überhören und ich erinnerte mich an meine Sopran-Stimme. Ich hatte fast vergessen, dass Frau Wildgrube – meine 2. Lehrerin, die mehrere Schüler zum Gesangsstudium gebracht hatte und früher selbst im dramatischen Fach gesungen hatte, der Ansicht war, ich sei ein dramatischer Sopran. Ich startete den Fachwechsel und scheiterte zunächst. Ich war ohne Engagement, bewarb mich also als Mezzosopran oder auch mal als Alt und lernte zu Hause Wagner und Strauss. Meine Stimme veränderte sich – und es ging nicht in die richtige Richtung. Oben und unten ließen sich nicht mehr verbinden. Alle Tricks, die ich „meine Technik“ nannte, versagten. Alles war mühsam. Singen war für mich zur bloßen Anstrengung geworden. Das kannte ich so nicht. Mit Ende 30 fühlte es sich an, als wenn meine Stimme Schönheit und Jugendlichkeit abgelegt hätte, ohne Reife und Kraft dafür zu gewinnen. Fertig für den Ruhestand? Nein! Mit noch nicht 40 war dieses Phänomen entschieden zu früh eingetreten. Wann hatte ich mich eigentlich als Sängerin mal so richtig austoben können? Kurze Antwort: noch nie. Die Partien, die ich an den Theatern zu singen bekam, haben mir nicht wirklich entsprochen. Wie auch? Ein Sopran im Gewand eines Mezzosoprans!

 

Wie selten Menschen sind, die Dein Potenzial sehen, noch bevor Du es selbst merkst oder auch wenn Du schon nicht mehr dran glauben kannst, weiß ich jetzt. Aufgeben war keine Option. Ich wollte wissen, was los war. Ich suchte Unterricht und fand (nach mehreren Anläufen) meinen jetzigen Lehrer. Meine ganze Sicht auf das Singen und Singen-Lernen, auf mich und meine Stimme, auf Menschen und ihre Stimmen, hat sich im Zuge meiner Technik-Umstellung geändert. Ich versuchte nicht mehr etwas zu erfüllen und dafür gegen Widerstände anzurennen, sondern lernte inneren und körperlichen Empfindungen mit forschendem Interesse zu begegnen und den Klang-Output für den Moment nachrangig zu betrachten. Balance wurde das zentrale Thema. Mein immer hoher Ehrgeiz und Anspruch an mich selbst wurde konstruktiv und fand seinen Platz, statt dass er mich fester und fester werden ließ. Ich wurde mir erstmals physiologischer Basics klar: wie wird Lautstärke geregelt? Was genau ist die Bruststimme, was die Kopfstimme? Wie entsteht der eine oder andere Vokal? Wie komme ich ungehindert von einem zum anderen? Was ist eine gute, das Singen förderliche Atmung? Und vieles mehr. Und ich lernte meine antrainierten Lösungsmuster zu erkennen und durch physiologisch funktionale zu ersetzen. Wenn ich ohne Anstrengung singen wollte, musste ich üben, mich nicht anzustrengen.

 

Nach und nach fand ich zurück zu mir und zu meiner Stimme und bin tatsächlich froh um die Ent-Täuschungen auf meinem Weg und dass ich in der Krisenzeit nicht hingeschmissen, sondern weitergemacht habe. Wer aufgibt, hat schon verloren. Was kommt, kommt.

 

Heute empfinde ich die Arbeit an meiner Stimme und die Arbeit mit meinen Schülern als bereichernder und spannender denn je. Jede Stimme ist einzigartig und doch sind wir uns als Menschen oft sehr ähnlich. Es gehört für mich zu den schönsten Erfahrungen, die Mittel, die mir geholfen haben, weitergeben zu können und Zeuge von mehr Freiheit und Freude beim Singen zu werden – denn die Stimme lügt nie.